Die Verhältnisse in der Festung Europa kommen in Bewegung

unbekannt

Obwohl es nach dem letzten Verarmungsdiktat in Griechenland zunächst so aussah, als ob die Troika wieder einmal das letzte Wort errungen hätte, und sich die Hoffnung vieler auf einen solidarischen Aufbruch in Apathie auflösen würde, konnte in den letzten Tagen von Apathie nicht die Rede sein. Wie unsere Freund*innen von “Blockupy goes Athens” schreiben: “Schäubles Coup gegen das griechische OXI ist nicht das letzte Wort im Kampf um ein anderes Europa gewesen. Denn wer sich mit Zäunen, Memoranden und Armeen über das Leben der Menschen erhebt, der kann nicht verhindern, dass dieses Leben sich immer wieder sein Recht nimmt, die Ordnung zu durchbrechen.”

In allererster Linie sind es jene Menschen, die jetzt in europäische Länder flüchten müssen, die die mörderische europäische Ordnung herausfordern. Jeden Tag führen Geflüchtete politische Kämpfe gegen das militarisierte Grenzregime. Mit Fussmärschen, Blockaden und Hungerstreiks fordern sie ihre Handlungsmacht ein, die die EU-Grenzpolitik mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterdrücken sucht. Selbst mit offener Waffengewalt ist es nicht gelungen, sie zum Schweigen zu bringen. Jede verweigerte Registrierung und jeder selbstbestimmte Grenzübertritt ist Teil eines Kampfs um Bewegungsfreiheit und gegen ein militarisiertes Europa der Eliten, der für uns alle weitreichende Konsequenzen haben wird.

Auf unterschiedliche Weise leisten auch immer mehr Menschen mit europäischen Pässen einen Beitrag in diesem Kampf um Bewegungsfreiheit: Mit Willkommenschildern und warmem Essen an den Bahnhöfen in Budapest, Wien und München; mit Bolzenschneidern an den Stahldrahtzäunen zwischen Serbien und Ungarn; als Bahnbedienstete oder als Fluchthelfer*innen mit ihren privaten PKWs. “Refugees welcome” ist allgegenwärtig geworden. Die unverhoffte Welle der Solidarität und die spontane, kollektive Selbstorganisierungsfähigkeit von großen Teilen der Zivilgesellschaft stimmen zu recht optimistisch: Denn was sich auch hier in Wien getan hat, geht über reine humanitäre Nothilfe weit hinaus, auch wenn die Regierungen sich jetzt bemühen, es als solche zu entpolitisieren. Hunderttausende Europäer*innen zeigen gerade mit aller Deutlichkeit, dass die Abriegelung Europas und der vorsätzliche Massenmord im Mittelmeer und auf den anderen Transitrouten keinen Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung haben – weder in Serbien, Grossbritannien, Deutschland oder Dänemark, noch in Österreich.

In diesem Aufstand der Menschen gegen die Grenzpolitik ihrer Regierungen haben sich einige Grenzen bereits verschoben: Etwa die zwischen Legalität und Legitimität, wenn hunderte sich offen zu ihrem zivilen Ungehorsam bekennen und Fluchthilfe zur humanitären Pflicht erklären. An die Stelle von individualisiertem Entsetzen und einem Gefühl überwältigender Machtlosigkeit sind an vielen kleinen Schauplätzen neue Formen der Kollektivität getreten. Neue Netzwerke sind entstanden, nicht zuletzt auch zwischen Österreicher*innen mit und ohne Migrationshintergrund. Wissen und Fähigkeiten von Menschen mit Migrationserfahrungen waren in den letzten Tagen zentral in der Unterstützung Geflüchteter. Das macht Hoffnung, dass die herrschaftsförmige Abwertung von Menschen mit Migrationshintergrund, auf der der österreichische und europäische Status Quo so zentral basieren, weiter an Boden verlieren wird.

Dass Österreich als Staat nun die Dreistigkeit besitzt, ein humanitäres Image vor sich herzutragen, ist hingegen unerträglich. Die österreichischen Regierungen der letzten Jahrzehnte waren federführend an der Abschaffung legaler Einreisemöglichkeiten und am Aufbau des tödlichen Grenzregimes beteiligt. Innerhalb Österreichs folgte in den letzten Jahrzehnten eine Asylrechtsverschärfung auf die nächste. Noch vor wenigen Wochen war Österreich einer der Staaten, die selbst eine neue europäische Quotenregelung für die Aufnahme von Geflüchteten – die ja lediglich an der Oberfläche der Probleme gekratzt hätte – blockiert hat. Seinen im Vergleich zu anderen Ländern ohnehin geringen Beitrag zum UNHCR-Hilfswerk kürzte Österreich von 2013 auf 2014 nochmals um die Hälfte. Symptomatisch für die Betreuung Geflüchteter innerhalb Österreichs ist das Erstaufnahmelager Traiskirchen: Bereits 2003 unter Innenminister Strasser an ein gewinnorientiertes Unternehmen übergeben , gerieten die katastrophalen Zustände im August diesen Jahres in internationale Kritik humanitärer Organisationen. Anstatt zu reagieren, begingen sich sämtliche politischen Verantwortlichen in wochenlangen gegenseitigen Schuldzuweisungen und spielten den Ball den Rechtsextremen in die Hände, um gegen Geflüchtete Stimmung zu machen. Dass der österreichische Staat selbstverständlich schon für die Fluchtursachen mitverantwortlich ist, ist dabei ein eigenes Kapitel, das von der neokolonialen EU-Wirtschaftspolitik bis hin zur Unterstützung des IS durch die Unterminierung und Kriminalisierung progressiver Kräfte in Rojava reicht.

Für den fürchterlichen Tod der 71 Geflüchteten, die am 27. August bei Parndorf im Burgenland aufgefunden wurden, ist der österreichische Staat mit aller Deutlichkeit zur Verantwortung zu ziehen. Es mag auch am politischen Handlungszwang liegen, den die internationale Aufmerksamkeit auf diese – politisch verschuldeten! – Tode erzeugte, dass Österreich die Grenze zu Ungarn zwei Wochen lang nicht so hermetisch verriegelt hat wie sonst. Doch von einem tatsächlichen Umdenken kann bisher nicht die Rede sein. Gegen den deutlichen Willen eines relevanten Teils der österreichischen Bevölkerung stemmt sich der österreichische Staat noch immer gegen eine Aussetzung der Dublin III-Verordnung und die Wiedereinführung legaler Einreisemöglichkeiten. Während der Bundespräsident den Helfer*innen an den Bahnhöfen, die nun seit Wochen unbezahlt die Arbeit des Staates verrichten, die Hände schütteln geht und Faymann sich in geheuchelter Kritik an Orbán übt, verschickt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl munter weiter Abschiebungsbescheide nach Ungarn – und das trotz allen anderslautenden Beteuerungen, und sogar gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs. Ganz offensichtlich hat die Regierung vor, die zivilgesellschaftliche Solidaritätswelle “auszusitzen” und im Hintergrund die Grenzen weiter hochzuziehen. Die Grenzschliessung Ungarns vom 15. September dürfte den österreichischen Grenzzieher*innen dabei als Atempause gerade gelegen kommen.

Es liegt an uns, diese Pläne gründlich zu durchkreuzen. Es liegt an uns zu überlegen, wie wir die Risse, die das Grenzregime bekommen hat, auf Dauer stellen und ausweiten werden. Auf dass die vielen kleinen kollektiven Gewinne der letzten Tage nur der Zünddraht für weitere Kämpfe sind!

Interventionistische Linke Wien, 17.9.2015